Halbwindkurs

Alles ganz einfach: Das ist der Kurs auf einem Boot, wenn "der Wind" genau von der Seite, also von querab bzw. aus 90° zur Fahrtrichtung kommt. Soweit ist man sich einig ...

... aber dann streiten sich die Geister: Welcher Wind ist denn "der Wind" ?

Wir bringen mal ein wenig Klarheit in die Angelegenheit, erklären die Hintergründe - mal ausnahmsweise ohne ideologisches Anspruchsdenken, sondern mit Fakten !
Warum muss dies geklärt werden ? Weil jährlich tausende Segelschüler entweder das Eine oder das Andere beigebracht bekommen und dann in der praktischen Prüfung nicht richtig reagieren, wenn der Prüfer auffordert, auf Halbwindkurs zu gehen.

Fakt ist, das es regelrecht zwei "Lager" gibt, die die irgendwo gelernte oder gelesene Meinung für die einzig wahre halten, ohne sich mal wirklich selbst mit der Physik der Dinge auseinandergesetzt zu haben. Selbst Wikipedia ist von diesem Streit betroffen (siehe "Versionsgeschichte" und "Diskussionen" zum Thema). Zur Zeit haben sich dort mal wieder die "alten Herren" durchgesetzt: Man serviert ein Gemisch aus beidem und widerspricht sich damit am Ende selbst. Genau genommen wird jetzt "Meinung 1" vertreten, was sich im Wörtchen "ungefähr" manifestiert: Zitat Wikipedia: "Halber Wind bezeichnet einen Kurs, bei dem ein Windanzeiger an Bord ungefähr rechtwinklig ausweht, der scheinbare Wind also mit ungefähr 90° einfällt." Zum anderen kann man aber auch nicht von "Meinung 2" lassen, was sich in der Einleitung und im nicht ganz waagerecht fahrenden Boot im Bild der Kurse zeigt. Hilfreich ist das alles nicht, zumal dann in der Fußnote mit unbewiesenen Behauptungen wieder die (halbe) Rolle Rückwärts gemacht wird. Ziemlich beschämend das Ganze und weit entfernt davon, dem interessierten Leser sinnvolle Informationen zu liefern. Also lassen wir die "alten Herren" dort mal weiter auf stur schalten und schauen uns die Sache einmal selbst genauer an:

Es gibt also zwei wirklich unterschiedliche Beschreibungen:

Meinung 1: Halbwindkurs liegt dann an, wenn der wahre (oder atmosphärische) Wind von querab kommt.
Meinung 2
: Halbwindkurs liegt dann an, wenn der scheinbare (an Bord gefühlte) Wind von querab kommt.

Beide Meinungen finden sich in der Literatur, im Internet und in Schulungsunterlagen, eben manchmal die eine, manchmal die andere Meinung. Die Meinung 1 mit "wahrem Wind" wird heute an den Hochschulen und Universitäten gelehrt, Meinung 2 (scheinbarer Wind) ist durch manch auflagenstarkes Buch, vor allem in der Vergangenheit, bestens verbreitet. Für Eissegler, Surfer, Katamaranfahrer und schnelle Jollensegler ist es "natürlich" der wahre Wind, der auf Halbwindkurs von querab kommt, weil deren Verklicker in Fahrt nie seitlich, sondern immer mehr oder weniger stark nach hinten ausweht. Dazu später mehr.

Ist das nicht alles das Gleiche ?

Nein - nur ohne Fahrt ist der scheinbare Wind auch der wahre Wind. Sobald ein Boot aber Fahrt aufnimmt, bleibt der wahre Wind in Richtung und Größe konstant, der scheinbare Wind ändert sich aber sowohl in Größe, als auch in der Richtung, abhängig von der Fahrtgeschwindigkeit. Man muss sich also entscheiden, ob die Kurse zum Wind auf den wahren oder scheinbaren Wind bezogen werden sollen. Aber immer der Reihe nach ...


A) Ein Segler (egal wie schnell), ein wahrer Wind aus 180°, ein Kurs in Richtung 90° (siehe unten):

Nach Meinung 1 ist dieser Kurs ein Halbwindkurs: Der wahre Wind kommt von querab.


B) Ein seeehr langsamer Segler, ein wahrer Wind aus 180°, ein Kurs in Richtung 85°:

Nach Meinung 2 ist dieser Kurs ein Halbwindkurs: Der scheinbare Wind, also der Wind, der vom Verklicker (hier: rot) angezeigt wird und auf dem Boot zu spüren ist, kommt genau von querab. Bei 8 Knoten atmosphärischem Wind dürfte der Segler für diese 90°-Verklickerstellung bei gezeigtem Kurs nur knapp 0,7 Knoten Fahrt haben - das ist langsamste Schleichfahrt, selbst für einen Rahsegler - und hat mit normalem Segeln wenig zu tun.

Wie man sieht, unterscheiden sich beide realen Kurse (Fall A gegenüber Fall B) über Grund kaum; hier nur um 5° - das könnte man glatt vernachlässigen.


C) Ein relativ langsamer Segler, ein wahrer Wind aus 180°, ein Kurs in Richtung 60°:

Nach Meinung 2 ist dieser Kurs ein Halbwindkurs: Der scheinbare Wind, also der Wind, der vom Verklicker angezeigt wird und auf dem Boot zu spüren ist, kommt genau von querab. Durch die etwas größere Geschwindigkeit entsteht mehr Fahrtwind. Der aus wahrem Wind und Fahrtwind zusammengesetzte (resultierende) scheinbare Wind kommt erst dann von querab, wenn ein tieferer Kurs zum wahren Wind gefahren wird. Der Kurs über Grund weicht schon stark vom 90°-Kurs ab. Der Segler ist hier immer noch relativ langsam, erreicht bei 8 Knoten Wind nur 4 Knoten Fahrt, oder anders ausgedrückt: bei genannter Geschwindigkeit und Windstärke muss das Boot den oben gezeigten Kurs von genau 60° fahren, damit der scheinbare Wind von querab weht !
Nach Meinung 1 ist dieser Kurs ein leichter Raumschotkurs.


D) Ein schneller Segler, Katamaran oder langsamer Surfer, ein wahrer Wind aus 180°, ein Kurs in Richtung 30°:

Nach Meinung 2 ist dieser Kurs ein Halbwindkurs: Der scheinbare Wind, also der Wind, der vom Verklicker angezeigt wird und auf dem Boot zu spüren ist, kommt genau von querab. Tatsächlich weht der Verklicker bei diesem Kurs immer noch exakt im 90° Winkel zur Seite aus (was man leicht praktisch überprüfen und auch berechnen kann), weil die Geschwindigkeit relativ hoch und der Fahrtwind entsprechend groß ist; im Beispiel wäre der Segler mit 6,9 Knoten bei einem 8 Knoten Wind unterwegs. Wird die Fahrtgeschwindigkeit größer als die Windgeschwindigkeit (Surfer im Gleiten, schneller Katamaran), ist praktisch gar kein Halbwindkurs (und erst recht kein Raumschotkurs) nach Meinung 2 mehr zu erreichen, weil der Fahrtwind den Verklicker dann grundsätzlich nach hinten weht. Hier gäbe es nur noch einen einzigen fahrbaren Kurs, wenn man auf den scheinbaren Wind abstellt: den Amwindkurs ! Mit einer kleinen Zeichnung (Vektoraddition) lässt sich dies leicht beweisen. Hinweis: Moderne Katamarane erreichen heute schon die dreifache Windgeschwindigkeit !
Nach Meinung 1 ist dieser Kurs ein tiefer Raumschotkurs.

Nun - das oben gezeigte sind die Fakten, die Sie in Büchern oft gerade nicht finden. Hier schummelt man sich ums Thema herum, in dem man ein Bild wie im Falle A) zeigt und dann u.U. die Meinung 2 vertritt oder keine wirkliche Aussage macht, welcher Wind denn nun den Halbwindkurs bestimmen soll.

Vergessen wir mal die festgefahrenen Meinungen und schauen, wo welches "Modell" (nennen wir es mal so) besser und sinnvoller oder eben nicht so gut einzusetzen ist.

Modell 1: mit wahrem Wind
Vorteile:
a) Wenn man Kurse zum Wind festlegen will (z.B. ein Prüfer auf dem Steg für seine Prüflinge in den Booten), dann kann und sollte man sich immer am wahren Wind orientieren, denn nur der ist sowohl am Steg als auch für alle Boote gleich. Oft weht eine Fahne an Land oder die Wellen verraten durch ihren Lauf die Richtung des wahren Windes. Wer als Schüler nicht weis, woher der wahre Wind weht, hat ziemlich verloren. Er kann keinen richtigen Aufschießer fahren, wird nicht richtig gegen den Wind am Steg anlegen können und wird seine Manöver nach Gefühl fahren müssen, welches ihm als Schüler schlicht noch fehlen wird. Das Wissen um den wahren Wind ist für jeden Schüler also das A und O - keine Frage. Wer nicht weis, woher der wahre Wind weht, macht z.B. auf offener See einfach zwei Kreuzschläge hoch am Wind.; genau dazwischen liegt die Richtung, aus der der wahre Wind weht.
b) Wie oben in den Bildern zu sehen, bietet das Modell 1, das sich am wahren Wind orientiert, unabhängig von der Geschwindigkeit des Bootes immer auch die anderen Kurse, also auch verschieden tiefe Raumschotkurse oder Amwindkurse an. Ein Kommando, auf leichten Raumschotkurs zu gehen, kann immer definiert gefahren werden - unabhängig von der Geschwindigkeit des Bootes. Und diese Kurse sind damit absolut festgelegt und nicht relativ zur Bootsgeschwindigkeit (siehe Bild unten: klar definierte Kurse über Grund, unabhängig von der Geschwindigkeit)


Nachteil:
a) Für den Anfänger ist es nicht immer leicht, die Richtung des wahren Windes zu bestimmen, auch wenn es immer Möglichkeiten dafür gibt (s.o.).

Modell 2: mit scheinbarem Wind
Vorteile:
a) Der Verklicker ist nun mal sehr leicht zu beobachten. Wenn aus einem beliebigem Kurs auf Halbwindkurs gedreht werden soll, braucht man nur so lange zu Drehen, bis der Verklicker eben querab ausweht. Das klappt aber nur, wenn das Boot nicht zu schnell wird.
Nachteile:
a) Wenn ein Boot seine Geschwindigkeit ändert, dann ändert sich auch der Halbwindkurs nach Modell 2 über Grund mit. Um auf einem schneller werdenden Boot den Halbwindkurs zu halten, muss man immer weiter abfallen, also einen Bogen fahren, von Bild B) über C) nach D) (siehe Bilder weiter oben) und ggf. weiter, wenn das Boot noch schneller werden kann.
b) Insbesondere für schnellere Boote gibt es keine wirkliche Bezeichnung mehr für einen Kurs, der 90° zum wahren Wind anliegt (Problematik siehe Bild unten; blauer Kurs = ???). Selbst für normale Segler müsste der gesamt Bereich ab 60° bis 300° (siehe Bild C, weiter oben) schon als "Amwindkurs" bezeichnet werden, für schnelle Segler und Surfer etc. der gesamte Bereich ab 30° bis 330°, denn auf 30° liegt ja der Halbwindkurs nach diesem Modell 2 an (siehe Bild unten, grüner Kurs stellt im Modell 2 den Halbwindkurs dar, weil der Verklicker bei dieser Geschwindigkeit nur auf diesem Kurs genau nach querab ausweht, der scheinbare Wind also 90° von der Seite kommt !). Der Bereich des Raumschotkurses wäre dann auch sehr eingeschränkt, z.B. von 10° bis 20°, also kaum noch vorhanden (siehe Bild unten).



Wir erinnern uns an Fall D) (siehe weiter oben):
Ein schneller Segler, Katamaran oder langsamer Surfer:
Der grüne Kurs ist Halbwindkurs; hier weht der Verklicker auf 90° aus.
Wo bleibt der Raumschotkurs, was ist alles Amwindkurs ?


c) Ein Halbwindkurs nach Modell 2 zur Festlegung eines Kurses über Grund ist nicht praktikabel: Ein Surfer würde auf einen Kurs von vielleicht 20° über Grund gehen, ein mittelschneller Jollensegler auf 55° und ein langsamer Rahsegler auf 75°; alle würde auf "Halbwindkurs" nach Modell 2 fahren, würden aber völlig verschiedene Richtungen einschlagen. Im Modell 1 würden hingegen alle genau in die gleiche Richtung fahren: auf Kurs 90°.
d) Selbst wenn nur ein einzelnes Boot betrachtet würde, würde jede Änderung der (Wasser-)Strömung die Geschwindigkeit des Bootes und damit den Kurs zum scheinbaren Wind verändern. Ein Kurs hat und hatte aber schon immer den Sinn, eine Richtung über Grund einzuschlagen und so gut wie möglich zu halten. Damit unterscheidet sich der Kurs von einer Vorgabe der Segelstellung. Für eine gewünschte Einstellung der Segelstellung gibt es Anweisungen wie "Segel fieren" oder "Segel dicht holen". Bezieht man die Kurse zum Wind aber auf den scheinbaren Wind, wären die "Kurse zum Wind" nichts weiter als eben die Segelstellung.


Auf den ersten Blick scheint Modell 1 klar überlegen zu sein, aber warum hat sich daneben auch das Modell 2 behaupten können ? Wie so oft, wenn etwas gelehrt wird und nicht wirklich vom Schüler nachvollzogen werden kann, dann wird das "gelernte" einfach ungefiltert aufgenommen und irgend wann in ähnlicher, aber nicht identischer Form wiedergegeben, ohne die Hintergründe verstanden zu haben.

Dabei ist die Erklärung recht einfach: Tatsächlich unterscheiden sich beide Modelle in Bezug auf alle anderen(!) Kurse nicht: Der Amwindkurs und auch der Vorwindkurs werden bei beiden Modellen (Meinungen) durchgängig in der Literatur, unabhängig von Meinung 1 oder 2, auf die gleiche Weise beschrieben: "Ein Amwindkurs liegt an, wenn der Kurs einen Winkel von weniger als 90° zum wahren Wind hat und ein Vorwindkurs liegt an, wenn der wahre Wind genau achterlich einfällt". Hier orientiert und orientierte man sich also immer schon (sinnvollerweise) am wahren Wind, aber warum geht man beim Halbwindkurs unterschiedliche Wege ?

Nun - der Grund war einfach der, dass man versucht hat, es den Schülern, den Lesern oder Zuhörern einfacher zu machen: "Schaut auf den Verklicker - und ihr wisst, wann ihr etwa auf Halbwindkurs seid." Und diese Vereinfachung war auch völlig legitim, funktionierte auch und war hilfreich, solange das Boot langsam war. Solche Vereinfachungen finden sich nicht nur hier, sondern selbst in der Mathematik. Leider (oder glücklicherweise) sind unsere modernen Boote deutlich schneller geworden, erreichen gar Geschwindigkeiten, die bis zur Windgeschwindigkeit reichen und teilweise weit darüber hinausgehen - da braucht man nicht auf Eissegler zu verweisen. Schon bei normalen Jollen und Yachten unserer Tage sind die Abweichungen zwischen Modell 1 und 2 schon so groß, dass man sie nicht mehr so einfach ignorieren kann: die Vereinfachung entpuppt sich dann nicht mehr als Vereinfachung, sondern wird zum Fehler, der umso größer wird, je schneller das Boot ist.

Muss man nun das Modell 2 verteufeln ? Nein - man muss es nur richtig anwenden ! Falls die Geschwindigkeiten sehr klein sind, dann gilt auch heute noch: ein Halbwindkurs (zum wahren Wind) liegt etwa dann an, wenn der Verklicker (zeigt den scheinbaren Wind an) in etwa zur Seite ausweht. Das funktioniert z.B. dann, wenn man steht oder gerade anfährt.

Wenn man unter einem Kurs (wie überall üblich, z.B. in der Luftfahrt, aber auch im Sprachgebrauch: "Du hast einen falschen Kurs eingeschlagen" usw.) eine Richtung versteht, dann macht ein Bezug des Kurses zum scheinbaren Wind keinen Sinn, weil dies a) faktisch nur die Segelstellung beschreiben würde, b) die üblichen Kurse wie Halbwindkurs oder gar Raumschotkurs auf den meisten modernen/schnelleren Booten kaum oder gar nicht mehr fahrbar wären, c) diese Kurse keine auch nur annähernd zuverlässige Richtung über Grund angeben würden, d) diese Kurse/Richtungen für verschieden schnelle Boote völlig unterschiedlich wären. Ein solcher Bezug zum scheinbaren Wind ist auch nicht traditionell ableitbar, im Gegenteil: Was heute dank GPS gesteuerter Ruder kein Problem darstellt, war früher eine übliche Aufgabe: den Kurs über Grund zu halten, wenn man auf offener See bei schlechter Sicht unterwegs war. Dazu war ein Bezug zum scheinbaren Wind völlig ungeeignet.

Anders herum macht die Sache aber sehr viel Sinn: Wenn der Kurs nach dem wahren Wind ausgerichtet wird, dann hat man eine recht konstante Größe, mit der man ziemlich präzise navigieren kann: die vorherrschende Windrichtung. Die Seefahrer vergangener Zeiten wussten sehr genau, wo wann welche Windrichtungen vorherrschten und konnten sich bei schlechter Sicht sehr gut an der vorherrschenden (wahren) Windrichtung orientieren. Ganz unabhängig vom Bootstyp und der Geschwindigkeit, mit der sich ein Boot bewegt, sind die auf den wahren Wind bezogenen Kurse räumlich klar festgelegt. Jedes Boot kann die Anweisung, auf Raumschot-, Halbwind- oder Amwindkurs zu gehen, befolgen und man kann auch von Land erkennen, ob dies korrekt umgesetzt wurde: Nicht an der Segelstellung, sondern am Kurs, also der Richtung, die das Boot eingeschlagen hat.

Jedem Schüler kann man nur raten, sich mit dem wahren Wind auseinander zu setzen, zu lernen, seine Richtung und Stärke zu erkennen und seine Kurse danach auszurichten. Und für die richtige Segelstellung ist dann durchaus auch ein Blick auf den Verklicker erlaubt ;-)

Jochen Deicke, mail@jochen-deicke.de  
Leiter der Segelausbildung der KSGH